Die Ermittlung von Zukunftskompetenzen im Mitmachunternehmen

Das Projekt REMI steht für Organisationale Resilienz im Mitmachunternehmen. Was genau ist gemeint?

Boes: Im Projekt befassen wir uns mit der Frage, wie Unternehmen Neuerfindungsprozesse nachhaltig und beteiligungsorientiert bewältigen können. Den Ausgangspunkt bildet der gegenwärtige Umbruch in der Automobilindustrie mit der Elektrifizierung des Antriebsstrangs im Zuge der Dekarbonisierung und einer neuen Phase der digitalen Transformation, in der Software zur neuen Kernkompetenz wird. Das stellt die Unternehmen und die Mitarbeitenden vor große Herausforderungen. Denn gewachsene Strukturen und Prozesse müssen neu gedacht und Kompetenzen und Qualifikationen neu entwickelt werden. Hier ist organisationale Resilienz gefragt – also die Fähigkeit, grundlegende Veränderungen gut zu überstehen. Dazu braucht es eine gemeinsame Vorwärtsstrategie und die aktive Beteiligung der Mitarbeitenden. IAV geht hier als Vorreiter neue Wege. In ihrem Haustarifvertrag haben die betrieblichen Sozialparteien sich auf das strategische Leitbild des „Mitmachunternehmens“ verständigt. In unserem gemeinsamen Projekt REMI loten wir aus, wie sich damit eine so grundlegende Transformation eines Unternehmens erfolgreich bewältigen lässt.

Link: Wir legen seit Jahren schon einen besonderen Fokus auf die Qualifizierung und Weiterentwicklung unserer Mitarbeitenden – auch um kurzfristig auf Marktveränderungen reagieren zu können. Das Projekt REMI hilft uns dabei, IAV mittel- bis langfristig resilienter und damit insgesamt robuster aufzustellen. Nämlich indem wir zum einen die relevanten Zukunftskompetenzen für IAV identifizieren, und zum anderen eine Methodik entwickeln, nach der wir diese Kompetenzen immer wieder bestimmen können. Wichtig ist mir an dieser Stelle zu betonen: Wir erarbeiten das nicht im stillen Kämmerlein, sondern ziehen das Wissen und die Erfahrungen unserer Mitarbeitenden aktiv mit ein. Den Wandel der Automobilindustrie können wir nur gemeinsam meistern.

Wie sieht die Einbeziehung der Mitarbeitenden konkret aus?

Link: Das Projekt ist in drei Phasen unterteilt: wissenschaftliche Analyse, Aufbau eines Praxislaboratoriums und Transfer der Ergebnisse in die Organisation. Aktuell befinden wir uns am Ende der wissenschaftlichen Analyse. Unsere Mitarbeitenden sind in allen drei Phasen eingebunden – sei es als Inputgeber in Tiefeninterviews, die das ISF mit ihnen geführt hat, oder als Gestalter bei der Ausarbeitung der Zukunftskompetenzen für IAV und deren Verproben in der Arbeitspraxis im Rahmen des Laboratoriums.

Boes: Der Aufbau eines betrieblichen Praxislaboratoriums bei IAV steht im Zentrum des Projekts. Mit dieser von uns entwickelten und in vielen Projekten erfolgreich erprobten Methode können Beschäftigte, Führungskräfte und Betriebsräte gemeinsam in einem agilen Setting Handlungsbedarfe erarbeiten, konkrete Lösungen entwickeln und diese in der Organisation umsetzen. Dabei sind das Empowerment des Lab-Teams und die Beteiligung der Beschäftigten als Expert:innen ihrer eigenen Arbeit von entscheidender Bedeutung: Die Beteiligten entscheiden selbst, welche Herausforderungen sie angehen und wie. Ein sozialpartnerschaftlich besetzter Lenkungskreis soll die entsprechenden Rahmenbedingungen garantieren sowie kontinuierlich die Ergebnisse für das Gesamtunternehmen bewerten und verallgemeinern.

Welchen Nutzen soll das Projekt REMI letztlich bringen?

Boes: Wirtschaft und Gesellschaft befinden sich insgesamt in einem fundamentalen Paradigmenwechsel, vergleichbar mit der Durchsetzung der industriellen Produktionsweise vor 150 Jahren. Software und Daten werden in vielen Branchen zum Ausgangspunkt für neue Geschäftsmodelle und veränderte Formen der Wertschöpfung, die Qualifikationsanforderungen, Arbeitsorganisation und Führungskultur grundlegend herausfordern. Zusammen mit IAV wollen wir Good Practices für eine beteiligungsorientierte Bewältigung dieser Herausforderungen entwickeln, von denen auch andere Unternehmen lernen können, die ebenfalls mit Neuorientierungsprozessen konfrontiert sind. 

Link: Die volatilen Marktbedingungen und die technologischen Fortschritte, mit denen wir konfrontiert sind, werden eher zunehmen als abnehmen. Insofern ist es für uns als Unternehmen zentral, organisationale Resilienz zu entwickeln, um auf diese Herausforderungen zu reagieren und erfolgreich zu sein. Kompetenzentwicklung spielt dabei eine wesentliche Rolle. Durch das Projekt REMI wollen wir innovative Wege finden, um die Mitarbeitenden nicht nur in die Entwicklung neuer Kompetenzen einzubeziehen, sondern auch deren vorhandene Kompetenzen zu nutzen und weiterzuentwickeln.

Müsste IAV nicht selbst am besten wissen, welche Zukunftskompetenzen das Unternehmen in Zukunft braucht?

Link: Ja, natürlich. Dieses Wissen ist im Unternehmen vorhanden. Im REMI-Projekt geht es darum, es gezielt einzuholen, zu bündeln und außerdem neue Methoden für Verbreitung und Aneignung dieser Zukunftskompetenzen zu entwickeln und im Praxislaboratorium zu verproben. Das ISF bringt dabei nicht nur seine exzellente wissenschaftliche Expertise auf der Grundlage jahrelanger empirischer Forschung in und außerhalb der Automobilindustrie, sondern auch den wertvollen Blick von außen mit ein.   

Boes: Unsere wissenschaftliche Bestandsaufnahme bei IAV hat gezeigt, dass hier in den letzten Jahren bereits eine reichhaltige Expertise zur Bewältigung von Neuerfindungsprozessen aufgebaut werden konnte. Das gilt z.B. für den erfolgreichen Aufbau des Netzwerks von Change Agents oder für die Qualifizierungsprogramme, die in der aktuellen Version „Fit for Future“ die Ergebnisse eines jahrelangen Lernprozesses fruchtbar gemacht haben. Hier hat insbesondere das produktive Zusammenspiel mit der Mitbestimmung, auf der Grundlage des tarifvertraglich verankerten Qualifizierungsbudgets, Vorbildcharakter auch für andere Unternehmen. Mit Blick auf das Thema Zukunftskompetenzen gilt es, an dieses Wissen und den bisherigen Erfahrungen anzuknüpfen.

© Bild Andreas Boes: bidt